Heja Svergie

Quasi durch die Hintertüre und ganz unspektakulär haben wir Schweden betreten, auf der 84er, in Mittelschweden, Bezirk Jämtlands-Län. Definitiv keine Saison mehr. Das zeigt uns nicht nur der Kalender. Leere Strassen, leere Dörfer. Auch das Wetter tut seines dazu. Grau in Grau. Wir wählen eine Nebenstrasse. Nicht etwa in der Hoffnung, mehr Betrieb zu erleben, sondern wenn schon denn schon - richtig ab in die Einsamkeit. Die kurvige Naturstrasse führt uns hinauf auf eine dicht bewaldete Hochebene. Die Außentemperatur liegt beim Gefrierpunkt. Der Waldboden und teilweise auch die Strasse sind mit Reif bedeckt. Alles schimmert weiss, als hätte es geschneit. Wir fahren nur noch mit Schritttempo. Wenn wir hier von der Strasse rutschen, finden sie uns erst wieder im nächsten Frühling. Mit fortschreitender Dämmerung kommt eine vorweihnächtliche Stimmung auf. Jetzt fehlt nur noch der Samichlaus, der aus dem Wald hervortritt. Ein paar Kurven weiter stehen wir plötzlich vor einem leuchtenden, unschuldig dreinschauenden Augenpaar. Das Wesen steht mitten auf der Fahrbahn, trägt Pelz und einen mächtigen Kopfschmuck. Es ist nicht alleine, das Wesen. Links und rechts im Wald stehen sie zu Dutzenden. Kleine und Grosse, Weisse und Braune. Alles Ren. Wie im Märchenbuch. Als würden sie auf den Samichlaus warten, um dann, vor den Schlitten gespannt, die Weihnachtsgeschenke an die Kinder zu verteilen.

Nach einer kalten Nacht in einsamer Wildnis fahren wir am Morgen weiter nach Mora. Im kleinen Städtchen erfahren wir unverhofft, dass hier alljährlich der weltbekannte Wasalauf endet. Weiter südöstlich in Falun dann nochmals eine Stadt, die, wie Røros auf norwegischer Seite, durch den Abbau von Kupfer bekannt geworden ist. Ein riesiger Krater von mehreren hundert Metern Durchmesser zeugt vom vergangenen Bergbau.

Unser nächstes Ziel, Uppsala. Auf der Anfahrt bekommen wir es zu spüren. Definitiv Schluss mit Wildnis und Einsamkeit. Definitiv Grossstadtluft. Auf dem riesigen, aber nur mit einigen Dauermietern belegten Campingplatz treffen wir auf ein jüngeres Paar mit Wohnmobil und Berner Schilder. Sie fahren praktisch die gleiche Route wie wir – aber das Ganze in fünf Wochen. Wir tauschen kurz unsere Erfahrungen vom Nordkapp. Die beiden sehen müde aus. Sie wollen früh schlafen gehen und am Morgen weiter nach Stockholm. Ebenfalls unser Ziel – aber erst in zwei Tagen.  

Stockholm – nun sind wir wirklich in einer Grossstadt, mit allem was dazu gehört. Internationaler Flughafen, zweiter, nationaler Flughafen, U-Bahn, riesige Shoppingpaläste an der Peripherie, jede Menge Touristen und jede Menge Sehenswürdigkeiten. Zwei volle Tage bleiben wir, um den wichtigsten Empfehlungen aus dem Reiseführer zu folgen. Von der Vielzahl an Museen, die dem Publikum offen stehen, begnügen wir uns jedoch nur mit dem Besuch des Nobel-Museums, das sich allen Preisträgern dieser prestigeträchtigen Auszeichnung widmet.

Auf der Fahrt an die Westküste Schwedens, nach Göteborg, legen wir drei Zwischenstopps ein. Zuerst nächtigen wir in Gripsholm, direkt am See und vor dem wunderbaren gleichnamigen Schloss. Einen zweiten Zwischenhalt legen wir in der Nähe von Karlstad, am riesengrossen Vänern-See ein, wo mir ein ganz besonderes Erlebnis widerfuhr. Davon aber später. Den dritten Halt vor Göteborg machen wir in Smögen, einem schmucken kleinen Fischerdorf an der Schärenküste. Am Morgen besuchen wir dort den lokalen Fischmarkt, in dem die fangfrische Ware per Auktion an die Interessenten verkauft wird. Das von uns dort gekaufte Krabbenbrot war zwar „schweineteuer“, bzw. „krabbenteuer“, dafür schmeckte es absolut einmalig.

In Göteborg gönnen wir uns wieder einmal einen etwas längeren Aufenthalt und nehmen uns Zeit für Spaziergänge entlang des „Göta-Älv“ und quer durch die Stadt.

All die interessanten und sehenswerten Highlights, von Uppsala über Stockholm bis nach Göteborg, möchte ich hier nicht weiter beschreiben, denn dies ist bereits x-fach in Reiseführern gemacht worden oder im Web nachzulesen. Zudem würde es hier Seiten füllen und die Blog-Leser vermutlich langweilen. Nachfolgende Geschichte jedoch ist nirgends nachzulesen, selber erlebt und absolut wahr:                               Wie bereits erwähnt, haben wir in Karlstad einen Halt eingelegt und gegen Abend am Rande der Ortschaft einen Platz für die Nacht gesucht. Inzwischen sind wir recht geübt im Auffinden eines geeigneten, ruhig gelegenen, unauffälligen Nachtlagers. Dieses Mal wählen wir ein kleines Wiesenstück in einer Quartierstrasse, leicht zurückversetzt, vor dem Eingang zu einer Reihe von Schrebergärten. Das Nachtessen liegt bereits hinter uns und für 20:00 Uhr hat Brigitte mit ihrer Freundin ein „FaceTime“-Gespräch vereinbart. Als die Verbindung zustande kommt, verlasse ich das Fahrzeug, um die beiden ungestört plaudern zu lassen. Draussen ist es bereits dunkle Nacht, es ist angenehm frisch, windig und der Regen hat freundlicherweise seine ureigene Eigenschaft, das Regnen, eingestellt. Ausgerüstet mit Windjacke und Mütze aber ohne Handy (das hat Brigitte für das „FaceTime“-Gespräch) und ohne Portemonnaie (keine Chance auf eine Kneipe weit und breit) mache ich mich auf zu einem kleinen Spaziergang. Höchstens die Quartierstrasse runter, ev. noch um eine Ecke und dann wieder zurück. Vor dem Auto dann die erste Überraschung. Auf der ruhigen Quartierstrasse stehen drei Rehe. Ein Blick, ein kurzer Moment - schon sind sie weg, lautlos huschen sie davon. Entzückt vom Anblick mache ich mich auf den Weg. Ein paar Schritte nach der langen Autofahrt tun gut, entspannen. Am Ende der Quartierstrasse biege ich links ab. Der Weg führt entlang der Uferpromenade. Auf keinen Fall darf ich mich verlaufen. Links das Wasser, rechts eine Zeile Einfamilienhäuser. Das ist leicht zu merken. Beim Rückweg sind das Wasser rechts und die Häuser links. Der Gang durch die Nacht ist angenehm, die Luft frisch, vom Regen gereinigt. In praktisch allen Häusern brennt Licht. Zu sehen sind die Inneneinrichtung, das Mobiliar aber keine Menschen. Vorhänge oder Rollläden sind in Schweden wohl unbekannt (obwohl doch eigentlich bei IKEA erhältlich). Liegen die Bewohner wohl alle auf dem Sofa, oder sind die Häuser verlassen und die Lichter an der Zeitschaltuhr sollen Einbrecher abschrecken? Gedanken schiessen mir durch den Kopf. Was würde ich tun, wenn ich jetzt plötzlich eine dunkle Gestalt sehe, die versucht einzubrechen? Oder noch schlimmer, was ist, wenn Anwohner denken, ich sei eine solch dunkle Gestalt? Wie würde ich mich erklären? Kein Portemonnaie, kein Ausweis, kein Handy! Fahrlässig? Ach was, ich entschliesse mich weiter zu gehen. Es sind ja kaum zehn Minuten vorbei, seit ich mich auf den Weg gemacht habe. Die beiden sind sicher noch voll in ihrem „FaceTime“. Weiter vorne macht sich dann auch auf der linken Seite ein Einfamilienhausquartier breit. Ich biege wiederum die erste Strasse links ab. Nur den Weg nicht verlieren. Aber es ist so oder so Zeit umzukehren. Da sticht mir plötzlich ein scharfer Geruch in die Nase. Rauch? Plastik der brennt? Instinktiv suche ich nach der Quelle des Gestanks. Da erblicke ich in einem Vorgarten Flammen. Um diese Zeit verbrennt jemand seine Gartenabfälle? Dazu noch so nahe an einem parkierten Fahrzeug? Von der Neugier getrieben nähere ich mich dem Flammenherd. Und das, was ich insgeheim befürchtet habe, wird in der gleichen Sekunde zur Gewissheit. Das Auto brennt. Stichflammen schiessen unter der Kühlerhaube hervor. Im Haus neben dem brennenden Auto brennt Licht. In allen Häusern rundum brennt Licht, aber kein Mensch ist zu sehen. Was soll ich tun. Kein Portemonnaie, kein Ausweis, kein Handy! Was ist, wenn jemand denkt, ich ….! Sch…..! Davon schleichen? Kommt nicht in Frage! Was tun? Die Flammen züngeln bereits meterhoch und der linke Vorderreifen hat mit einem Knall seine Luft hergegeben. Das brennende Auto steht nahe beim Hauseingang. Keine Menschenseele zu sehen, weit und breit. Das Nachbarhaus ist hell erleuchtet. Ich suche vergebens nach einer Klingel. Ich öffne das Gartentor und betrete den Vorgarten, schliesslich ist es ein Notfall. Hoffentlich hat der Hausbesitzer keine bösen Hunde. Auch an der Haustüre keine Klingel. Keine Vorhänge, keine Rollläden, keine Klingeln – was ist das nur für ein Land. Gut - ich habe kein Portemonnaie, keinen Ausweis, kein Handy – auch nicht viel besser! In diesem Fall hier machen sich die vorhang- und rollladenlosen Fenster bezahlt. Durch das Wohnzimmerfenster erblicke ich ein Paar, das gemütlich aneinander gekuschelt auf dem Sofa liegt und offensichtlich den Fernsehabend geniesst. Mit der flachen Hand klopfe ich kräftig ans vorhanglose Fenster, um die beiden jäh aus ihrer trauten Zweisamkeit aufzuschrecken. Mutig und ohne Argwohn kommt der junge Mann an die Türe. Ob er englisch spreche? „Just a little“, meint er. „Fire!“, gestikuliere ich und deute auf das Nachbarhaus. „OK“, meint er und holt aus dem Wandschrank einen Feuerlöscher, der aber von seiner Grösse her kaum für das Löschen eines Holzkohlegrills gereicht hätte. Inzwischen ist auch seine Partnerin an der Türe. Sie spricht gut Englisch und übersetzt ihm das Notwendige. Schnell hat er das Handy am Ohr und ruft die Feuerwehr. Inzwischen hat auch der zweite Vorderreifen mit einem explosionsartigen Knall das Zeitliche gesegnet. Der ganze vordere Bereich des Fahrzeugs, bis hin zur Windschutzscheibe ist ein glühender Feuerball. Zum Glück bläst der Wind die Flammen und den beissenden Rauch vom Haus weg. Der junge Mann, stolzer Besitzer eines kleinen Feuerlöschers den er nicht zum Einsatz bringen kann, rennt nun durch seinen Vorgarten und springt über den Gartenzaun zur Hinterseite seines Nachbarhauses, dem Hause mit dem brennenden Auto im Vorgarten. Er klopft – so wie ich es gemacht habe – an ein hell erleuchtetes, vorhangloses Fenster. Und siehe da, auch in diesem Haus sind Menschen zugegen. Zuerst erstaunt und ungläubig, dann hektisch und aufgeregt nehmen sie das Übel wahr. Bis die Feuerwehr eintrifft, vergeht viel Zeit. Aber das ist wohl immer so, wenn man auf Hilfe wartet. Zwischenzeitlich sind ca. ein Dutzend Personen beim Brandherd. Die Partnerin des jungen Mannes (ihr wisst schon, der mit dem kleinen Feuerlöscher) fragt mich, was ich denn hier mache, ob ich einfach so nachts im Quartier herumspaziere. Wieder schiessen mit die gleichen Gedanken durch den Kopf. Kein Portemonnaie, kein Ausweis, kein Handy und dann noch nachts alleine unterwegs im Wohnquartier. Also, mir käme so jemand sehr suspekt vor. Was ist, wenn jemand denkt, ich hätte das Auto ….? Soll ich jetzt gehen? Bevor die Feuerwehr kommt? Ich entschliesse mich auf deren Ankunft zu warten. Als die Feuerwehrmänner im Einsatz sind, verabschiede ich mich beim jungen Mann. Er bedankt sich und wünscht mir guten Urlaub. Ohne nochmals auf das Geschehen zurück zu schauen, mache ich mich auf den Heimweg. Die Wohnhäuser links, den See rechts. Weit über eine Stunde war ich weg - ohne Portemonnaie, ohne Ausweis, ohne Handy. Brigittes „FaceTime“ war längst zu Ende und sie war nicht wenig besorgt über meinen Verbleib. Sorry!

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